Evolution vorwärts oder rückwärts?

erstellt am: 28.03.2023 | Kategorie(n): Aktuelles |

„Kreative Prozesse beginnen bekanntlich damit, dass man verunsichert ist, dass man keine eindeutige Lösung findet und dass man diese Verwirrung aushält.“

Verena Kast (siehe unten)

Was mich verwirrt? Technik.

Mein Mobiltelefon möchte mich nicht mehr über neue Nachrichten informieren. Obwohl ich alle Einstellungen überprüft habe. Dafür behauptet es, meine ID würde gerade von einem neuen Handy verwendet. Ein Anruf aus Tansania geht ein. Und eine Spam-Mail mit übelsten Unterstellungen und Erpressungsversuchen (keine Details, diese Bilder möchte man nicht im Kopf haben).

Und dann die KI (künstliche Intelligenz), AI (artificial intelligence). Ich staune.

Erst lese ich, dass die Algorithmen mittlerweile so weit sind, dass sie Stimmen täuschend echt synthetisch herstellen können. So, dass die Emotionen, die mit der Stimme verbunden sind, mit übertragen werden. Aus mit der blechernen Computerstimme. Verschiedene Firmen (Respeecher, Ukraine; Voikers) benutzen das für Filme, Podcasts, Hörbücher – aber wenn man das weiterdenkt, kann man jede Stimme klonen … und …  Am weitesten/perfektesten ist man in Englisch. Man rechnet damit, dass das „Audio“ (wie man z.B. bei WhatsApp sieht), die Sprachnachrichten, in den kommenden Jahren zunehmen werden … Heute haben podcasts global 621 Millionen Zuhörer:innen im Jahr. (Markt: 1 Mrd. Dollar).

Also: sprechen statt schreiben.  (El País 29.5.2022)

Auf der anderen Seite: Sprechen stirbt auch aus. Also, selber sprechen, zum Beispiel am Telefon. 80% der jungen Menschen (zwischen 14 und 24) haben Angst, am Telefon zu sprechen (El País 28.1.23, la extinción de las llamadas). Die direkte Stimme ist impaktstark. Und: Man muss direkt/sofort reagieren. Damit sind offensichtlich viele überfordert (wie überhaupt die Sozialphobien zunehmen). Ich schicke auch lieber schnell eine Nachricht als dass ich anrufe! Man stört nicht (denkt man) und zwingt den anderen nicht zu einer sofortigen Reaktion (glaubt man).

Angeblich kostet ein Anruf zuviel Zeit, sagen 75% der Jugendlichen (Umfrage 2022 „Generation Mute“ Millennials Phone Call Statistics de BankMyCell), 64% wollen den Kontakt mit lästigen Mitmenschen vermeiden, 80% fürchtet Störungen und „verbale Konfrontationen“. Bei einem Telefonat weiß man vorher nie, wie lange es dauern wird – bei einer Sprachnachricht sieht man es vorher. Dabei ist erwiesen, dass ein (kurzer) Anruf und direkter Kontakt genau diese Ängste besänftigt. Telefonieren macht ein wenig glücklicher. Die Stimme des/der anderen zu hören, beruhigt. Ein Gespräch von ca. acht Minuten kann therapeutische Wirkung haben (Studie 2021, Uni Harvard). Vorschlag: vorher ausmachen, wann/ob man telefonieren will und wie lange (acht Minuten, haha). Soziale Interaktion ist kein Luxus, sondern wichtig für das mentale Wohlbefinden, physische Gesundheit und trägt zu einem langen Leben bei, sagt die Harvard-Studie. Eine andere Harvard-Studie (Thema Glück) sagt, dass Menschen in „einsamen“ Berufen, also ohne Kolleg:innen, unglücklicher sind. Kolleg:innen machen glücklich. Und – statt dass die anderen einen vom Arbeiten abhalten, zeigt sich, dass, eher im Gegenteil, man produktiver arbeitet. Also: Gespräche müssen her! (Voraussetzung: man wird nicht gemobbt)

Papier und Stift?

Gut, am Rande: verschiedene Studien legen ebenso nahe, dass der Kontakt mit Papier und Stift in manchen Fällen besser ist als das iPad oder der Computer … Wir scheinen in einer Übergangsphase des Physischen zum Digitalen zu sein.

Analoge Technik ist ja gerade wieder „in“: Platten, Kamera mit Film usw. Also: Stift in die Hand nehmen, macht uns produktiver (ach, deshalb ist mir nichts eingefallen!).

Und ein haptischer Kalender macht die Daten einprägsamer. Kommt das Revival der gedruckten Kataloge? Man weiß ja, dass der Inhalt von Büchern, die man digital liest, nicht so gut haften bleibt als hätte man das Buch in der Hand gehabt … Und Erinnerung läuft über Multisensorik. Heißt: je mehr Sinne beteilgt sind, umso besser erinnern wir uns später daran. Aber wer weiß, wie lange noch … denn jetzt gibt es ja, tata! ChatGPT.

ChatGPT

ChatGPT nimmt uns jetzt auch das Denken ab. Hat man eine Frage, googelte man. Bisher. Und man musste die Zusammenhänge selbst herstellen bzw. schreiben. Jetzt gibt man die Frage bei ChatGPT ein und bekommt wohlformulierte Sätze geliefert: Lehrer:innen suchen ihre Aufgabestellungen für Prüfungen mit ChatGPT und die Schüler:innen und Student:innen schreiben ihre Arbeiten damit. (Ich übertreibe). Plagiat? Schwer festzustellen. ChatGPT liefert immer neue Antworten/Sätze/Formulierungen. Je nach Fragestellung, sprich: Prompt. Prompt ist die Befehlszeile für das Programm, wer´s noch nicht weiß. Aber mittlerweile ist das ja Thema in allen Gazetten.

Ganz zu schweigen von den Programmen, die Texte in Bilder umwandeln (ChatGPT und Dall-E bzw. Midjourney). Wenn man damit allerdings wirklich gute Bilder rauskriegen will, erfordert das auch viel Wissen, Gespür und Arbeit. Prompt Writer sind gefragt und verdienen viel Geld. Neben dem Original von Vermeer Die Frau mit den Perlenohrringen im Rijksmuseum in Amsterdam hängt angeblich seit kurzem eine „Kopie“, mit KI generiert …

Ganz normal mit einer Kamera aufgenommen …

Gut, aber zurück zu den Texten. Ich habe ChatGPT gefragt:

„Schafft ChatGPT das Denken ab?“
Antwort:
„Nein, ChatGPT schafft das Denken nicht ab. ChatGPT ist ein computergestütztes Sprachmodell, das darauf trainiert wurde, menschenähnliche Antworten auf Eingaben von Benutzern zu generieren. Obwohl ChatGPT in der Lage ist, menschenähnliche Antworten zu generieren, hat es keine eigene Intelligenz oder ein eigenes Bewusstsein.

Das Denken bleibt ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Wesens, einschließlich der Kreativität, Vorstellungskraft und Reflexion. ChatGPT kann als ein Werkzeug zur Unterstützung des menschlichen Denkprozesses genutzt werden, indem es Informationen liefert, Denkanstöße gibt oder die Gedanken von Benutzern herausfordert. Jedoch kann ChatGPT das Denken nicht ersetzen, da es selbst nicht über eine eigene Perspektive oder eigene Erfahrungen verfügt, die notwendig sind, um komplexe Entscheidungen zu treffen oder kreativ zu sein.

Es ist wichtig zu betonen, dass ChatGPT auch seine Grenzen hat und nicht in der Lage ist, komplexe Aufgaben zu lösen oder menschliche Fähigkeiten wie Emotionen, Intuition oder Empathie zu replizieren. ChatGPT ist ein Werkzeug, das uns helfen kann, aber es ist immer noch der menschliche Geist, der die kreativen und komplexen Denkaufgaben löst.“

Zitat Ende. (Danke, lieber Hans). So, jetzt wissen wir´s. Werbetexter könnten die Ergebnisse von ChatGPT nicht einsetzen. Zu lang. Zu geschwafelt. Man müsste den Prompt ändern. Vielleicht in: Sag mir das in kurzen Worten für Werbetexte. Das habe ich (noch) nicht probiert …

Dann, natürlich, nochwas

Es wird viel geredet über die Ethik der Künstlichen Intelligenz. Eine neue Ethik muss her! Im „Le Figaro“ hat Eric Sadin einen sehr emotionalen Artikel veröffentlicht (Abdruck El País 26.2.23), in dem er darauf hinweist, dass uns jetzt die KI vorschreibt, wie wir unsere Worte wählen und Sätze formulieren sollen. Er meint, wir würden von der Wirtschaft ständig manipuliert bzw. auf einen von ihr bestimmten Weg geführt und wir fänden das „ganz normal“. Wir (die Gesellschaft) reagierten nur noch, die „Industrie“ zwingt uns dauernd was auf (z.B. ständige Updates, Anmerkung von mir). Nennt sich Innovation. Ziel: Geld lukrieren. Unsere Fähigkeiten uns auszudrücken und unsere Autonomie gehen in dem Maße flöten wie die wachsende Automatisierung fortschreitet. Ohne dass jemand einschreitet (Gesetze). Meint Sadin.

Tja, und was denken wir?

Wenn Chat GPT einen Aufsatz in eine Power-Point-Präsentation verwandeln kann – wunderbar. Her damit! Es ist wie bei vielem (Fernsehkonsum für die Alten, Internetkonsum für die Jüngeren): Es kommt drauf an, was man draus macht. Kluger Einsatz von Medien erfordert allerdings eine gewisse (eigene) Intelligenz und Bildung (so wie Humor auch). ChatGPT selbst warnt ja davor, dass man ihr nicht 100% trauen kann und es auch fehleranfällig sei. Das zu überprüfen, müsste dann jeder selbst übernehmen. Wenn man natürlich das Hirn abschaltet (was gerade modern ist), bleibt nur … die Emotion. Und wo Emotionen hinführen, wissen wir …

Eine Emotion: Angst.

Hier ein kluger Podcast mit Verena Kast. Sie hat schon in den 90er Jahren ein Buch geschrieben „Vom Sinn der Angst“. (Herder, Freiburg (Basel, Wien), 8. Auflage 2021. Jetzt aktueller denn je.

https://podcasts.apple.com/de/podcast/wdr-5-das-philosophische-radio/id255571403?i=1000575403051

Buch-Tipp:

Wer etwas über „Individualismus“ erfahren will:
Rüdiger Safranski. Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung. Hanser Verlag, München, 2. Auflage 2021.
Liest sich gut, man lernt eine Menge. Über Geschichte und Philosophie.

Humor ist die Medizin, die am wenigsten kostet und am leichtesten einzunehmen ist.

Giovannino Guareschi

Deshalb, bisschen Kanaren-Rap: