Sie legte den Hausschlüssel immer zwischen die beiden Autositze, vorne, auf die kleine Ablage. Automatisch. Man steigt ins Auto, wirft den Schlüssel hin – und nimmt ihn erst wieder heraus, wenn man sich in der Garage eingeparkt hat und nach Hause geht.
Der Schlüssel war eigentlich viele Schlüssel. Für zwei Häuser. Jeweils zwei, mindestens (Gedächtnis!), bis hin zum Vorhängeschloss des Abstellraums und Briefkastenschlüssel. Alles dran. Damit diese Schlüssel nicht verschwinden können, waren sie an einem auffällig bunten Band befestigt, das man sich um den Hals hängen kann – zur Sicherheit. Dann gab es noch einen Karabinerhaken, um die Schlüssel mit Leichtigkeit zu erweitern oder zu reduzieren. Und einen jahrealten Schlüsselbund mit einem Karneol-Stein, klein, rund, Handschmeichler.
An diesem Abend fuhr sie in die Garage, gegen 20 Uhr, blickte auf den Schlüsselbund mit dem gemusterten Stoffband und dachte „ach, den lass ich liegen, ich gehe ja erst noch ins Lokal, meine Freunde treffen. Ich hole ihn mit den Einkäufen auf dem Rückweg aus dem Auto.“ Zumindest glaubte sie sich später an einen solchen Gedankenblitz zu erinnern. Aber was weiß man. Man bildet sich ja eine Menge ein. Und das Gehirn macht sowieso was es will. Sie nahm also nur den Autoschlüssel mit und ging ins Lokal zu den Freunden, die sie bereits erwarteten.
Zwei Stunden saßen sie da, aßen, tranken, lachten. Dann ging sie zurück zum Auto, um die Einkäufe und den Haus-/Wohnungsschlüssel mitzunehmen. Keine Schlüssel. Einkäufe ja, alles da, aber keine Schlüssel, kein Band, kein Schlüsselanhänger. Sie suchte alles aus, kroch auf den Knien herum, ob vielleicht etwas unter dem Sitz lag – nein. Gottseidank hatten die Nachbarn einen Zweitschlüssel und sie konnte ihre Eingangstüren aufsperren. Merkwürdig, dachte sie. Dann habe ich sie wohl irgendwo liegen lassen. Sie schlief gut, in dieser Nacht.
Am nächsten Tag klapperte sie alle Stellen ab, wo sie gewesen war. Im Supermarkt. Keine Schlüssel abgegeben. Bei den Freunden. Nichts. Sie suchte alle Taschen und Jacken ab, ging wiederholt zum Auto, um es zu durchsuchen, telefonierte herum, ob jemand die Schlüssel gesehen habe. Fundbüro. Fehlanzeige.
Liebe Mitmenschen haben immer gute Ratschläge parat: „Der taucht wieder auf – da, wo du es am wenigsten vermutest.“ Sie schaut in den Kühlschrank. Nichts. „Der ist bestimmt neben dem Sitz reingerutscht. Lass mal jemand anderen schauen, manchmal ist man verblendet.“ Ja. Freunde durchwühlten das Auto. Vergeblich.
Sie überlegte. Wo war ich überall. Wo kann ich diese verdammten Schlüssel hingelegt haben. Ihr fiel der Blitzgedanke („die nehm ich später mit“) wieder ein. Sie sah deutlich die Schlüssel mitsamt der Schnur und allem Drum und Dran vor Augen, wie sie friedlich zwischen den beiden Autositzen lagen. Trugschluss des Gehirns? Kann ja gar nicht sein. Sie waren ja weg! Nicht da. Und dann die etwas beunruhigende Frage: Kann sie jemand aus dem Auto genommen haben? Und: Hatte ich das Auto abgeschlossen? Doch dazu spuckte das Gehirn nur „ich kann mich nicht erinnern“ aus. Alles ist möglich.
Sie hatte ein etwas ungutes Gefühl. Schlüssel weg. Trügerische Erinnerung an den Schlüsselbund. Keine Erinnerung, ob das Auto abgeschlossen war oder nicht. Wer hätte ein Interesse daran, alle ihre Schlüssel zu klauen? Und was macht er/sie damit? Gibt es einen Zufall? Der „Täter“ hatte ein Zeitfenster von zwei Stunden – von der Ankunft bis zum Nachhauseweg. Der Zufall wäre groß – und die kriminelle Energie auch. Das Auto stand in einer dunklen Ecke. Wer kommt auf die Idee, dass da ein Schlüssel im Auto liegt? Die anderen, die ihr Auto in der Garage haben, kommen nicht an ihrem Auto vorbei. Man sieht also nicht zufällig, im Vorbeigehen, dass da ein Schlüssel liegt. Man müsste schon Licht anmachen, hingehen und bewusst hineinsehen. Wer kommt auf eine solche Idee?
Das kam ihr so absurd vor, dass sie weiter die These vertrat, sie hätte sich das eingebildet und die Schlüssel würden irgendwann und irgendwo wieder auftauchen. Vielleicht in ihrem Briefkasten? Sie sah täglich hinein. Sie hängte einen Zettel aus mit ihrer Telefonnummer, falls sich ein ehrlicher Finder finden würde. Sie versuchte das zu vergessen, drehte noch ein paar gedankliche Pirouetten, konnte aber nachts gut schlafen. Prima.
Eine Woche später. Gleiche Szene. Sie parkte ihr Auto, nahm alle Schlüssel mit (Ersatzschlüssel)!, ging ins Lokal, um ihre Freunde zu treffen. Gute zwei Stunden, dann kam sie (mit dem Hausschlüssel) daheim an. Sicherheitsschloss. Sie steckte den Schlüssel hinein, öffnete. Sie musste den Schlüssel noch einmal herumdrehen. Es war abgesperrt! Sie sperrte diese Tür nie zu, sondern ließ sie nur ins Schloss fallen, wenn sie ging. Noch so ein Automatismus. (Man konnte ja sowieso nicht rein). Langsam wurde es gruselig.
Die Grenzen verschwimmen zwischen: Was mache ich automatisch (Tür nicht zusperren und Schlüssel zwischen die Sitze werfen). Woran erinnere ich mich (lagen die Schlüssel wirklich noch im Auto? Hatte ich das Auto verschlossen)? Nach dem Verschwinden der Schlüssel hatte sie am nächsten Morgen bemerkt, dass sie das Auto offen gelassen hatte. Sie war ja auch ein wenig verwirrt. Aber ihr Gedächtnis wollte ihr nicht preisgeben, wie das am Vorabend war.
So. Jetzt. Wer hatte ihre Schlüssel? Wer hatte sie beobachtet? Wer wusste, dass sie nicht zu Hause war, obwohl ihr Auto in der Garage stand – oder wollte er (sie dachte jetzt ER) sie heimsuchen und ging enttäuscht wieder? Es war offensichtlich nichts angerührt, es fehlte nichts. Die Gehirnmaschinerie war angeworfen. Ein Perverser? Ein Feind? Wer wollte ihr – und was – zeigen? Was soll das? Rufe ich die Polizei? Mache ich Wirbel? Und wenn jetzt nachher jemand eindringt?
Das war auf jeden Fall zuviel. Ein unlösbares Rätsel.
Sie beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken und tauschte am kommenden Tag alle Schlösser aus. Ein teurer Spaß. Wollte er das?
Lebensklugheit bedeutet: Alle Dinge möglichst wichtig, aber keines völlig ernst zu nehmen.
Las señoritas de Aviñón (1907), Les demmoiselles d’Avignon, das Original von Picasso, gilt als Initialwerk des Kubismus. Es hängt im MoMA in New York. Das erste Mal 1908 ausgestellt (bei Daniel-Henry Kahnweiler) in Paris, unfertig, dauerte es eine Weile, bis Mode-Designer („modista“/Schneider) Jacques Doucet das Bild kaufte. Für 25.000 Francs. Lächerlich. Es geht das Gerücht, dass Doucet gefragt hat, ob er das Bild günstiger haben könne, es sei so hässlich. Man tat sich wohl schwer mit dem Kubismus, zumindest kommerziell. (André Breton hat später das Werk gekauft …).
Das hier ist eine Kopie. Oder wie nennt man das, wenn einer bewusst ein Bild „kopiert“? Der Amerikaner Mike Bidlo hat es 1984 gemalt und „Not Picasso“ genannt. (Lest selbst).
Alle reden übers Wetter. Ein sehr einfühlsamer und vielschichtiger Film von Annika Pinske, die bei dem Film „Toni Erdmann“ Regieassistenz gemacht hat. Gelungener Debütfilm. Pinske wurde in der Uckermark geboren. Die Protagonistin, gespielt von Anne Schäfer, kommt aus dem akademischen Milieu von Berlin in das Kaff ihrer Kindheit, um den Geburtstag ihrer Mutter zu feiern. MeckPomm. Ich hatte ein Déjà-vu. Selber anschauen, es wird nix gespoilert (wie das ja jetzt so schön heißt).
Das einfache Leben. Wie man sich das so vorstellt. Man sitzt irgendwo auf dem Land. Und alles wird einfach. Einfach so. Man fährt die Energie herunter, hat keine Termine, muss nirgendwohin. Man genießt die vermeintliche Natur, die weite Sicht, Sonnenauf- und untergänge, geht spazieren, was auch immer. Ja, man genießt sogar den fehlenden Luxus „Ich brauche nichts!“, keine Klimaanlage, keine Luxus-Kaffeemaschine, keine Putzfrau (naja, da wird’s vielleicht schon schwieriger). Hängt alles davon ab, wie lange man bleibt.
Kurze Ausflüge in das einfache Leben sind schön. Längere Ausflüge werden schon komplizierter. „Hier gibt’s ja gar nichts“. Und sollte man sich langfristig, ganz, für das „einfache Leben“ entscheiden, stellt man fest, dass das einfache Leben weder einfach noch leicht ist. Sondern sehr aufwändig, zäh und herausfordernd. Nur weil man im Supermarkt nicht aus 100 Joghurts auswählen kann/muss, wird das Leben nicht einfacher. Oder zumindest nicht viel. Diese Erkenntnis stellt sich jedoch erst nach geraumer Zeit ein.
Die zweite Seite der Medaille sieht man erst, wenn man sie umdreht. Das kann eine Weile dauern, weil man sich an der glänzenden Seite vorerst nicht sattsehen kann. Doch dann passiert es. Und man bemerkt es. Da ist noch was. Und besser: Da ist nichts. Keine U-Bahn, die alle paar Minuten fährt. Kein Supermarkt am Eck. Keine Konditorei, keine frischen Brötchen in der Früh. Keine Post, keine Bank, kein Kino, kein Theater. Wenn man besonderes Pech hat, kein WLAN. Keine Radwege.
Ja, man hat etwas eingetauscht. Die Hektik gegen die Langsamkeit (manchmal seeeehhhr langsam, alles). Die Überforderung gegen die Suche nach Anregungen. Die Freunde gegen Menschen, die anders ticken als man selbst. Die Oberflächlichkeit der Begegnungen weicht der Notwendigkeit zur Kommunikation.
Das neueste „Werk“ ist fertig …
Im einfachen Leben, weg von der Stadt, ist der Schlüssel zum Überleben das Sprechen. „Im Reden kommen die Leut’ z’amm“. Es sei denn, man ist Eremit oder soooo weit weg, dass man keine Menschenseele trifft – unwahrscheinlich. Es ist unabdingbar, mit den Leuten zu sprechen, die dort schon lange wohnen. Und nicht nur mit den „Zugereisten“, den „Stadtflüchtlingen“, mit denen, die so drauf sind wie wir.
Und dann wühlt man sich durch die Vorurteile, Gerüchte, durch die skeptischen Blicke. Seltsamerweise leben an den idyllischsten Orten die merkwürdigsten Menschen mit den seltsamsten Ansichten. Je nachdem, wo man gelandet ist – und ob Berge rundherum sind – hat man vielleicht Glück und findet ein paar offene Gemüter, die einem weiterhelfen. Hat man mal angedockt, geht es nach und nach voran. Und ja, tatsächlich: Die Eingeborenen werden freundlicher, teils richtig herzlich, lächeln. In bestimmten Gegenden lebt noch die alte Tradition, dass sich die Leute auf der Straße grüßen. Ohne Grund! Niemand vermutet etwas dahiner … Man bleibt sogar stehen und wechselt ein paar sinnlose Worte.
Das benötigt allerdings Zeit. Eine Menge Zeit. Und Geduld. Viel Geduld. Dann kann es passieren, dass der Handwerker für eine Kleinigkeit kein Geld will, man in der Kneipe eine Tüte/Sackerl Pflaumen geschenkt bekommt oder beim Spazierengehen vom Weinbergbesitzer auf ein Glas eingeladen wird. Es passiert das, was wir vielleicht früher als normal angesehen hätten. Die Menschen sind menschlicher (ich hätte nicht gedacht, dass dieser Satz irgendwann mal einen Sinn ergibt).
Und ja – das wiegt alles auf, was manche vielleicht als Mangel empfinden. Wir sehen das, was da ist und nicht das, was wir nicht haben (können). Die Schönheit der kleinen Dinge, die Schätze, die vor unseren Füßen liegen. Wie immer sie aussehen mögen. Und den Achtsamkeitskurs schenken wir uns. ZP Juli/August 2022
Zitat dazu von Klaus Löwitsch: Zum Glück gehört, dass man irgendwann beschließt, zufrieden zu sein.
Und noch eins, von Joan Collins (!): Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade daraus.
Und was die Kommunikation angeht, wusste schon Wilhelm von Humboldt: Im Grunde sind es immer die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben. Verbinden wir uns. Anstatt uns zu bekriegen.
Das Leben rückwärts sortieren. Geht nicht. Zeitfresser. Ich habe beschlossen, nach vorne zu denken. Die Restzeit zu nutzen anstatt sie mit Doku vergangener Zeiten zu verplempern. Ist natürlich falsch. Mit „Geschichte“ verplempert man keine Zeit. Menschen, die versuchen alles mögliche (eigentlich ja nur Vergangenes, schließlich ist die Gegenwart schon vorbei, wenn ich das denke) in Bezug auf sich selbst, zur Welt, zu den anderen und zur Umgebung zu setzen, also wohl ich, haben ständig (mehr) zu tun. Die Vernetzung spinnt einen ein in ein immer dichter werdendes Gewebe (ich sage jetzt nicht „komplex“) – bis man nicht mehr durchblickt. Also ich. Ich scheue mich, mich in die Reihe der gerade modernen „Ich-Autoren“ (haha, habe ich Autor gesagt?) einzureihen, merke ich gerade. Ich merke aber auch, dass es fast nahezu unmöglich ist, eine andere Perspektive zu wählen.
Vertrackt
So, jetzt aber genug damit. Das war gerade eine vertrackte Einleitung (um nicht zu sagen, mich drumherum zu winden) für das, was jetzt kommt. Ein historisches „Gedicht“, wenn man es denn so nennen will, diese paar Zeilen. Das wirklich Merkwürdige daran ist, dass es aus dem Jahr 2008 stammt. Den Reim darf man sich selbst drauf machen.
(Apropos, das Ding ist so gut wie original – also peinlich – die besonders peinlichen Stellen habe ich aber gehobelt, sorry. Es waren genau zwei. Man muss sich ja nicht noch mehr blamieren). Danke für das Verständnis.
Der Wald. Ein Vorwurf.
Du hast mich lange nicht beachtet. Und trotzdem war ich immer da.
Für dich bestand ich virtuell. In Schlagzeilen der Zeitung, als der saure Regen kam. Wer spricht heute noch davon? Mein Überlebenswille funktioniert in aller Stille.
Du zogst das Licht der Städte vor. Während mein buntes Herbstlaub heimlich strahlte.
Dort schätzt man geistige Getränke. Und nicht den Geist, der nur im Märchen spukt.
Die Pilze, die auf meinem Boden wachsen, selbst diese wurden ausgelagert. In eigene Kulturen. Worte wie Halbwertzeit hinterlassen ihre Spuren.
Es wurden viele Äste abgesägt, manchmal auch der, auf dem man saß. Ich wurde oft genug verheizt, das ließ dich alles völlig kalt.
Man stopfte mich mit Fichten voll, die kahlen Stellen zu kaschieren. Ich litt an Käfern, Parasiten, Viren. Ich weiß, die Zeiten ändern sich. Auch ich muss das kapieren.
Doch irgendwann wendete sich das Blatt. Du hast die Stadt satt und kommst mich ab und an besuchen.
Du siehst das frische Grün des Mooses, du spürst das Laub unter den Füßen. Du hörst die Vögel in den Bäumen und isst von Beeren, die helle Wege säumen. Es riecht nach Freiheit. Du nimmst ein Bad in meinen Armen.
Deine Gedanken lässt du fliegen, die Sinne in den Zweigen wiegen. Und plötzlich erkennst du mich in jedem Ding. Im Papier. Im Pinsel. In den Formen. In den Farben. Ich bin die Luft in deinen Lungen. Mit jedem Atemzug bist du – dem Wald so nah.
Autoficción (Wie heißt eigentlich der deutsche Ausdruck dafür? Um Himmels Willen!) ist gerade modern. Eine Mischung aus Biografie und Roman, Selbstbekenntnis und Literatur, Realität und Erfindung. In der ersten Person geschrieben, dem Ich-Erzähler. Da manche LeserInnen sowieso Autor (das wahre Leben) und Erzähler (die Figur im Roman) verwechseln und immer wissen wollen, wasdavon „wahr“ ist, also wirklich geschehen, scheint es nur konsequent, dass man gleich alles in einen Topf wirft. Wo ist denn die Grenze? Schließlich muss alles, was einmal aufgeschrieben ist, durch den Kopf dessen/derjenigen gegangen sein, der/die es hinschreibt.
Ich-Literatur. Krasses Beispiel für Ich Ich Ich: der Norweger Karl Ove Knausgård. (Meiner Meinung nach völlig langweilig und uninteressant, ich gestehe aber, mich nur durch einen Band gequält zu haben).
Laut El País (4.6.22, memorias del malestar) nimmt die Literatur zu, in der SchriftstellerInnen über ihre psychischen Probleme schreiben: Ticks, Panikattacken, Depressionen, Angst vor „Verrückt-Sein“, was immer. Jetzt, nachdem mit der Pandemie mentale Auffälligkeiten (ich nenne es jetzt mal so) zugenommen haben, wird auch langsam das Tabu geknackt, darüber zu sprechen. Und es scheint die schreibende Zunft zu sein, die das Schweigen bricht und die Psyche thematisiert. In der Literatur, „autoficción“.
Bewusst sein …?
Ein bisschen von der Spur muss man schon sein, um eine Geschichte zu erfinden. Das „Unkraut im Hirn“ sprießt sowieso, vermutlich bei jedem. Ich glaube nicht, dass sich das Hirn von Schriftstellern wesentlich von anderen unterscheidet, auch wenn Rosa Montero in ihrem Buch (El peligro de estar cuerda, Seix Barral, 2022) davon spricht, dass gerade Schriftsteller suizidgefährdet seien (sie nennt viele Beispiele und belegt das auch mit Zahlen!) und kreative Menschen anders ticken. Das „glaube“ ich nicht. Ich denke, sie „notieren“ nur eher das seltsame Pflänzchen, das zwischen dem Unkraut in unserem Gehirn herumsteht und denken dann Sätze wie: „Warum sind Haare auf dem Kopf schön und in der Suppe eklig?“ Nichts Aufregendes. SchriftstellerInnen holen das Unbewusste ins Bewusstsein – und das ist häufig hochgradig beunruhigend, wenn man es nicht verarbeitet. (Von der Angst vor dem Tod oder dem Sinn des Lebens fange ich jetzt nicht an, das würde dauern …) Ich nehme an, Schwachsinn denkt jede/r, absurde (ich nenne es jetzt mal schmeichelhaft so) Gedanken ebenso – nur Schrifsteller lauschen eben ständig, sind dauernd auf der Suche nach „Stoff“. Tödlich.
Sie (Rosa Montero) spricht auch häufig von Begeisterung (möchte fast sagen Leidenschaft), dazu mein Kalenderspruch (haha):
„Die Welt gehört dem Enthusiasten, der die Ruhe behält.“
William McFee (english writer of sea-stories, born 1881, died 1966).
Sag mir, wo die Leute sind …
Wo sind siiieee gebliiiehiieben?
Bei Festivals und Konzerten fehlt das Security-Personal. Absagen.
Flüge werden gestrichen, weil Leute fehlen. Kofferkontrolle, StewardEssen, Bodenpersonal. Bei der AUA grassiert Corona.
Im Tourismus fehlen die KellnerInnen (Köche fehlen ja immer) und die Zimmermädchen (was für eine Bezeichnung! „Zimmerherrchen“).
Im kaputtgesparten Gesundheitswesen fehlt sowieso alles: Krankenschwestern (s.o. „Krankenbrüder“), Pfleger, Ärzte … ganz zu schweigen von den Pflegeheimen.
usw. usw. usw.
Keine Ahnung. Sitzen die alle zuhause mit dem Virus? Sind auf eine Insel ausgewandert, leben in einer Landkommune, bauen Biogemüse an und machen remote-working? Oder haben sich umschulen lassen auf Yoga- und Pilates-Lehrer bzw. LebensberaterIn?
Ich wundere mich. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Es gibt weniger Menschen, die arbeiten, aber keine Arbeitslosen. Sind die alle weggestorben? Wer erklärt mir denn bitte mal die Zusammenhänge?
Alles wird knapp, geht aus, hängt in Containern fest, kommt nicht an. Getreide für die Welt fehlt, Wege sind verstopft, nicht nur die Atemwege. In Österreich gehen die Zigaretten aus. Lieferengpässe bei Philip Morris. Und natürlich wird alles teurer. Wobei sich, wie ich gelesen habe, der Trend schon wieder umkehrt – in den USA. Dort ist der Holzpreis um 50% gefallen. Mal sehen, wie es hier in der alten Welt weitergeht und ob sie morgen noch steht …
Schöner Ausdruck: „Unkraut im Hirn“. Stammt von der Arbeitspsychologin Warga-Hosseini. Das mit dem Vakuum im Kopf stimmt ja nicht. Nichtdenken kann man ja nicht, auch wenn es manchmal den Anschein hat. Unkraut im Kopf ist eher passend. Es schießen Gedanken ins Kraut, die für gar nix gut sind, außer das Vakuum zu kaschieren.
Herren
Warga-Hosseini: „Raus aus der negativen Gedankenspirale! Es wächst sozusagen automatisch Unkraut in unserem Gehirn, wenn wir keine Blumen pflanzen. Es ist daher wichtig, immer wieder neue Gedanken zu tanken, ein paar Seiten in einem Buch lesen, ein Hörbuch anhören. Immer wieder raus ist die Devise.“ (leider habe ich die Quelle vergessen, sorry).
Hoffnung ist die Überwindung der Verzweiflung. Diesen Satz sagte die französische Philosophin Corine Pelluchon in einem Interview mit der El País am 15.5.22. Gefällt mir.
Dazu schnell noch ein Kalenderspruch:
Wie viel unbefangener man lebt, wenn man sich entscheidet, nicht etwas, sondern jemand zu sein.
Ich erinnere mich. In Vor-Walk-man(!)-Zeiten. Busfahrt von Deutschland nach Österreich, zum Skifahren. Ein paar junge Leute, zu denen ich zählte, eher mehr Mittelalterliche und natürlich ein nicht ganz junger Busfahrer. Nachtfahrt? Wieviele Stunden? Gefühlte Ewigkeit. Vor allem, weil der Busfahrer, um sich wachzuhalten, ständig Musik dudeln ließ. Kein Radio, weil sich die Frequenz ja alle paar Kilometer ändert, sondern Kassette. (Ich hoffe, die digital-natives können folgen). Musikkassette. Die Dinger, die sich nach häufigem Gebrauch (deshalb traf es immer die Lieblingskassette) in ein unentwirrbares Knäuel verwandelt haben. Zum Wegwerfen. Kassetten kann man nachkaufen, aber manchmal hat man sich die Mühe gemacht, Sendungen im Radio „mitzuschneiden“, sprich: aufzunehmen. Und dann war das für immer futsch. So.
Zu dieser Sorte Musikliebhaber gehörten die Busfahrer meist nicht. Sie hatten Billig-Kassetten (warum eigentlich? Waren ihnen ihre Fahrgäste nicht mehr wert?), vielleicht durften sie auch aus rechtlichen Gründen keine Original-Kassetten abspielen – auf jeden Fall handelte es sich fast immer um die scheußlichste Musik, die man sich vorstellen kann (Schlager und Schlimmeres) und nicht etwa in ihrer Originalversion, sondern in billigen Coverversionen. Schlecht nachgesungen, schlecht gespielt, schlecht aufgenommen. Unerträglich.
Die gleiche Leier.
Ich habe eine Nachbarin. Die macht genau das. Sie spielt den ganzen heiteren Tag eine Humptata-Musik, täglich die gleiche, der gleiche Rhythmus, die gleiche miese Coverband, live (!) aufgenommen, mit scheußlichen Ansagen dazwischen. Während die Busfahrer immerhin ein diskretes Säuseln im Bus verursachten (was schlimm genug war, weil man ständig versucht war zu lauschen, um den Song zu erkennen – und das gottseidank mit Erfindung des walk-man ein Ende fand!), dreht meine Nachbarin die Musik bis zum Anschlag auf. Gut, ich hatte schon Nachbarn, die waren Paolo Conte Fans, das hörte man auch durch die Decke, oder spielten live Klavier, je nachdem, aber das hörte sich nach Musik an. Und Paolo Conte – immer gut. Das konnte ich aushalten, hat mich manchmal sogar amüsiert. Und es war nie zu einer Zeit, zu der ich selbst Radio hören wollte oder mich auf einen Text oder sonstwas konzentrieren musste.
DIESE Nachbarin hingegen sucht sich ausgerechnet die Zeit aus (vormittags), in der ich mich am besten konzentrieren kann. Und dann ist es aus. Ich bekomme so einen Zorn, dass ich nicht mehr klar denken kann. Es dröhnt überall, bis in die kleinste Ritze. Ohrstöpsel zwecklos, alles probiert, Kopfhörer. Dann bin ich mit Blümchen vor die Tür der DJ getreten und habe ihr erklärt, dass ich mich konzentrieren müsse und sie bitte, die Musik doch ein wenig leiser zu drehen. „Oh, gut, dass du mir das sagst, ich habe ja auch erst später angefangen, aus Rücksicht auf die Nachbarn, natürlich.“ Sprach’s, drehte die Musik leiser. Erholung. Das hielt genau eine Woche. Dann ging der Terror weiter. Ich leide. Ich gehe wieder hin, klopfe. Ich war schon zweimal wutschnaubend vor der Tür. Sie öffnet mir nicht mehr (vermutlich hört sie das Klingeln nicht wegen der lauten Musik). Ich verzweifele. Ich leide. Ich kann nicht lesen, nicht schreiben, nicht meine eigene Musik hören. Terror total. Stundenlang.
Menschen, die ich frage, was man da machen kann, geben mir kluge Tipps. Andere sagen: „Bei der ist alles zu spät, die ist zu blöd. Die ist so (laut)“ Tja. Meine anderen Nachbarn sagen nichts. Vielleicht finden die das gut. Was tun? Ich könnte mir einen Kopfhörer kaufen, der alle Geräusche unterdrückt. Für 250 Euro oder so. Oder mal eine Wagner-Oper in abartiger Lautstärke erschallen lassen. Oder wie Loriot sagen würde: „Eines Tages bring ich sie um.“ (Achtung Algorithmus: Nicht ernst gemeint)
Das ist Grau
„Hat man viel, so wird man bald Noch viel mehr dazubekommen Wer nur wenig hat, dem wird Auch das Wenige genommen.“
Heinrich Heine.
Immer wieder gut, Heine. Und nichtmal aus meinem Kalender. Aber natürlich gibt’s noch einen Kalenderspruch:
Ob eine schwarze Katze Glück oder Unglück bringt, hängt davon ab, ob man eine Maus oder ein Mensch ist.
Max O’Rell. Franzose, seit 1903 tot. Eigentlich Léon Paul Blouet.
Vielen Dank! Habe ich noch gar nicht gewürdigt. Bin begeistert.